Es geht um die 6. Partie Kasparov--Karpov des WM-Kampfes 1984, die wir bzw. deren Ende wir eingehend in unserer Alt-Herren Trainingsgruppe analysiert haben.
Es geht um die 6. Partie Kasparov--Karpov des WM-Kampfes 1984, die wir bzw. deren Ende wir eingehend in unserer Alt-Herren Trainingsgruppe analysiert haben.
Ursprünglich sind wir auf sie aufmerksam geworden durch eine kuriose Rand-Erscheinung. "Rand" auch in dem Sinn, dass sich im 20. Zug auf der a-Linie vor dem weißen Bauern a2 und einem Läufer a1 der schwarze Bauer a7 und dann noch vier schwarze Figuren aufbauten: Läufer, Dame, Springer und der andere Läufer.
Schon eine lustige Konstellation. Fruchtbarer war aber der Hinweis, dass Karpov die Partie später auf eindruckvolle Weise in einem Turmendspiel gewonnen habe. Als ich dem nachging, lernte ich zunächst, dass dies auch sonst eine ganz bedeutsame Partie gewesen ist. Sie ist die Einleitung zu Phase 2 des Kampfes (Partien 6--9), die Kasparov später in seinem Buch "Kasparov On Modern Chess, Part Two" mit der Überschrift "Katastrophe" versah.
Er widmet der Partie dort nicht weniger als 11 Seiten und beschreibt sie als eine der "dramatischsten, packendsten und ... schwächsten" des ganzen Kampfes. Er erlangte zuerst einen riesigen Vorteil, verfiel dann aber ganz gegen sein Naturell (Kasparovs Worte) auf die Idee, seinen offensichtlichen Angriff nicht fortzusetzen sondern die Damen zu tauschen (eine Entscheidung, die ihm bis heute unerklärlich sei). Zwei Züge später hatte er einen völligen Blackout und, gefolgt von noch einem schwachen Zug, war die Partie in etwa wieder in einem Gleichgewicht. Damit nicht genug leistete er sich, statt nun das Remis zu forcieren, noch einen Fehler. Der hätte bereits entscheidend sein sollen, aber nun war es Karpov, der seinen Vorteil nicht hinreichend verdichtete. Statt dessen wickelte er in ein Turmendspiel ab, das für Kasparov gerade noch haltbar war --- hat er aber letzten Endes doch nicht.
Eigentlich sollten Turmendspiele eine recht übersichtliche Geometrie haben. Entweder so ein Turm greift horizontal oder vertikal feindliche Bauern an oder er versucht, den feindlichen König am Überschreiten einer Linie oder Reihe zu hindern. Trotzdem können sie immer noch so komplex werden, und das vorliegende hat es wirklich in sich. Dies zeigt sich allein darin, dass selbst Kasparovs Analyse in seinem Buch aus dem Jahre 2008 (als die Engines schon länger jenseits des menschlichen Horizonts operierten) noch zwei bis drei Fehlurteile enthält; er hält für verloren, was noch zu halten ist, oder für Remis, was verloren ist. Ein anderes Merkmal der Komplexität ist der Zug f2-f4: in zwei, jedoch recht unterschiedlichen Fällen wäre er der Auftakt zu einer Remisvariante gewesen, aber als Kasparov ihn aktuell in der Partie spielte, war das sein letzter und jetzt tödlicher Fehler.
Dieses Hin und Her liegt daran, dass das Endspiel richtig schön "unbalanced" ist. Schwarz hat zwei gegen drei Bauern auf dem Königsflügel aber einen freien a-Bauern, dessen Vormarsch zudem schnell vom König unterstützt werden kann. Das ist das Oberthema. Man kann etwas Struktur in die Analyse bringen, wenn man drei Unterthemen unterscheidet. (1) Der weiße Turm geht hinter den a-Bauern (geht kaum gut). (2) Dem weißen Turm gelingt es, die beiden schwarzen Königsflügelbauern abzuholen (oder wenigstens einen von ihnen) und dann gerade noch vor den a-Bauern zu kommen, wo er eventuell sein Leben lassen muss. Die Frage ist, was Weiß dann noch mit seinen eigenen Bauern unternehmen kann. (3) Es ist der weiße König, der vor den a-Bauern gelangt, und schwarzer Turm und König versuchen unterdessen, sich an die weißen Königsflügelbauern heranzumachen und dabei noch einen eigenen Bauern übrig zu behalten. Wann sollte sich Weiß für das eine, wann für das andere Unterthema entscheiden?
Auch wenn man jetzt mental darauf vorbereitet ist, dass das eine reichhaltige und damit umfangreiche Analyse wird---sie wird noch umfangreicher. Man kann auch nicht leicht etwas weglassen; während des Trainings habe ich gemerkt, dass das sofort eine Nachfrage provoziert. Um dieses Konvolut etwas handhabbarer zu gestalten, habe ich momentan den Plan, das Ganze in drei Teile aufzuspalten. Der hier präsentierte erste Teil (die anderen beiden sind noch in Arbeit) spielt dabei eine kleine Sonderrolle. Er behandelt nicht chronologisch das ungefähr erste Drittel der Partie, sondern er ist ein Extrakt, motiviert aus den gezielten Nachfragen in der ersten Trainingssitzung (insofern ist dieser Teil noch vergleichsweise beschränkt). Dieses, wenn man so will, Vorspiel ist jedoch so abgefasst, dass es für sich allein verstanden werden kann; wenn es auch der Sinn eines Vorspiels ist, dass es danach noch weiter geht.