Werder-Schach hat einen Deutschen Meister

Schach
Sonntag, 11.06.2023 / 16:53 Uhr

Wenn auch einen leicht exotisch anmutenden, nämlich im Senioren-Fernschach. Zunächst schaffte es Reiner Franke mit dem Gewinn einer der durchaus stark besetzten Vorrunden, sich für die Endrunde der 81. Deutschen Senioren-Fernschachmeisterschaft des Deutschen Fernschachbundes (BdF) zu qualifizieren. Allein das also schon ein Erfolg.

In der Endrunde selbst (mit immerhin auch zwei IM’s) erreichte er zusammen mit Roland Markus 12 Remis und 2 Gewinne, alle anderen Teilnehmer hatten weniger. Die bessere Sonneborn-Berger Wertung bescherte ihm dann den 1. Platz.

Die Tabellen kann man sich anschauen unter www.iccf.com/event?id=86944(Vorrunde) und www.iccf.com/event?id=96448(Endrunde). Die dortige Angabe, dass das event by postal mail gespielt wurde, ist Unsinn, es ging natürlich alles über den (sehr übersichtlich gestalteten) Server des BdF. Durch Anklicken der einzelnen Paarungen kann man dort auch die Partien nachspielen und sich herunterladen.

Ganz so exotisch ist ein Senioren-Fernschachtitel denn nun doch nicht. Im Unterschied zum Nahschach muss das Alter dort ja keinen Leistungsabfall bedeuten. Den Computern ist es egal, von wem sie bedient werden, und in der Regel haben alte weiße Männer zudem mehr Zeit als Normal-Berufstätige. In der Tat befinden sich von den zehn besten deutschen Fernschachspielern sechs im Seniorenalter.

Ergänzend einige Gedankensplitter von Reiner Franke zu Fernschach im allgemeinen.

Für Nahschachspieler ist Fernschach normalerweise kein Thema: uninteressant, denn Stockfish ist für jeden zugänglich und Stockfish gegen Stockfish ist immer Remis. Das Problem mit dem "Remistod" lässt sich ja auch wirklich nicht leugnen. Die gerade angeführte Endrunde wäre nur ein weiteres Beispiel: von den dortigen 105 Partien wurden gerade mal 8 entschieden. Also kein Wunder, dass ein Ergebnis von lediglich +2 aus 14 Partien bereits den ersten Platz bedeuten kann.

Frage 1: Heißt das, dass jeder mit etwas Schachverständnis, einem elementaren Eröffnungswissen und natürlich der neuesten Version von Stockfish in jedem Fernschachturnier mindestens 50% erzielen kann?
These dazu, nicht nur die meine: das wird nicht reichen. Um mich selbst als Beispiel anzuführen, in meinem ersten (modernen) Fernschachturnier 2016, einer Vorrunde zur Deutschen Fernschachmeisterschaft, musste ich Lehrgeld bezahlen und mich mit zwei Niederlagen abfinden. Was nicht ausschließt, dass andere sich als smarter erweisen . . .

Frage 2: Angenommen die Gegner sind nun keine Anfänger mehr, wie kann man überhaupt noch eine Partie gewinnen?
Die gängigen Antworten sind
a) durch einen selbstverschuldeten Fehler bei der Zugübermittlung (zweiter Zug vor dem ersten, wird manchmal gesagt); und
b) der Gegner kommt einem mit einer "dubiosen" oder dubios gewordenen Eröffnungswahl entgegen.
Standardmäßig werden hier die Königsindische Verteidigung oder Benoni genannt. Meine eigene Praxis könnte als Illustration gelten. In einer meiner oben erwähnten Verlustpartien hatte ich als Schwarzer Benoni gewagt (wofür mir ein neutraler Beobachter dankbar sein sollte, denn es führte zu einer äußerst lebendigen Partie), und später gewann ich eine Partie eben gegen Königsindisch. Nichtsdestoweniger halte ich ein solches Eröffnungs-Verdikt für leicht überheblich. Konkret war mein Königsindisch-Gegner ein erfahrener Fernschachspieler, der dieses Risiko oft und sehenden Auges einging. Und wenn ich mich recht erinnere, hatte er damit insgesamt mehr Gewinne als Verluste eingefahren.

Frage 3: Ein gewisses Niveau vorausgesetzt, hat Fernschach angesichts der hohen Remisquote überhaupt noch einen kompetitiven Reiz?
Nun, muss natürlich jeder für sich selbst entscheiden. Den stärksten deutschen Fernschachspieler, Matthias Kribben, der sich selbst als leistungsorientiert bezeichnet, stört diese Quote wenig—sie steigere nur den Wert jeder einzelnen Partie.

Frage 4: Aber wird die ganze Sache durch die vielen Remis nicht einfach uninteressant?
Nicht unbedingt, wenn man einen wissenschaftlichen Forscherdrang verspürt und Fernschach nicht als Leistungssport, sondern als intellektuelle Auseinandersetzung und vergnügliches Spiel ansieht. So die Sichtweise von Arno Nickel, der zweitbeste deutsche Spitzenspieler (übrigens sind Kribben und Nickel beide ebenfalls Senioren). Man kann dann eine Befriedigung darin finden, eine hochkomplexe Situation tiefer zu durchdringen und sie mit viel Arbeit schließlich zu meistern. "Schach am Brett ist wie eine Klausur, Fernschach entspricht eher einer Doktorarbeit" (M. Kribben). Und von Eduard Dyckhoff, einem der Väter des Fernschachs, stammt der Aphorismus, "Wo ist die Wahrheit? Im Nahschach fern, im Fernschach nah." (Dies, die anderen Verweise und einiges Interessantes mehr lässt sich auf
de.chessbase.com/post/fernschach-das-ideale-schach-oder nachlesen.)

Um diese hehre Sichtweise etwas konkreter mit einer Homestory darzustellen, möchte ich meine in der Endrunde vielleicht befriedigendste Partie anführen - die Remis endete.
(Kleiner Hinweis der Redaktion: es empfiehlt sich, parallel zu den folgenden Ausführungen die besagte Partie aus dem oben genannten Link (Endrunde) zu öffnen und nachzuspielen).
Ich wählte einen holländischen Stonewall, eine Struktur, die die Engines möglicherweise immer noch etwas für Weiß überschätzen. Mein Gegner (W. Billinger) baute sich mit g3 und Sh3 dagegen auf und ich folgte einer Monographie von N. Sedlak über den Stonewall aus schwarzer Sicht, die ich zu diesem Thema am vertrauenswürdigsten erachtete. Im 10. Zug setzte mein Gegner mit einem durchaus natürlich erscheinendem Zug (Se5) fort, der von Sedlak gar nicht erwähnte wurde, weil bis dahin nur in einer einzigen Fernpartie und keiner Nahpartie gespielt. Ab Zug 11 (Lg5 statt Lf4) gab es keinerlei Vorbilder mehr. Nach einer Weile begriff ich, dass dies für Schwarz ein echtes Problem darstellte. Mal eben Stockfish 10 Minuten laufen lassen und dann hat man es, reichte nicht. Aber es musste doch eine Lösung geben!?
Nach viel Arbeit und mehrmaliger Rückversicherung fand ich sie dann aber und damit die oben erwähnte Befriedigung. (In der Partie selbst konnte bis musste ich mich in ein Endspiel mit zeitweise einem Minusbauern retten; am Ende hatte mein Gegner noch mal einen mehr, der ihm aber mit den dabei enstandenen ungleichfarbigen Läufern nichts mehr nützte.)

Darüberhinaus hatte die Lösung einen ästhetischen Appeal. Bei noch geschlossener Mitte, wenn von der d- bis zur h-Linie noch kein Bauernhebel in Sicht ist, war auf 13.Tfd1 der Springerzug Sf6-e4 angebracht, während das gleich nützlich aussehende 13.Tfe1 mit Sf6-d7 zu beantworten war. Insgesamt waren diese Abspiele mit Wendungen verbunden, bei denen Schwarz leicht und um einiges eher als Weiß fehlgreifen kann. Ich meine, dass somit die ganze Angelegenheit objektiv auch von eröffnungstheoretischer Bedeutung ist; wenigstens für Leute, die als Schwarzer weiterhin Stonewall spielen wollen und dafür besser die ganze "Wahrheit" wissen müssen.

Auch wenn ich mich selbst eher als den wissenschaftlichen Typ sehe, muss ich mich mittelfristig aber doch fragen, ob mir das Meistern einer solchen intellektuellen Herausforderung genügt. Oder ob mir drei Gewinnpartien in einem gut besetzten Turnier nicht doch lieber wären. Nur dass eine Hoffnung auf letzteres eben reichlich unrealistisch wäre ...

 

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