Verzicht im Sport - "Ich vermisse nix"

Werder-Trainer Andrei Fabrizius muss auf vieles verzichten

Ein Großteil seiner Zeit gehört dem Sport: Trainer Andrei Fabrizius
Leichtathletik
Dienstag, 03.01.2023 / 07:18 Uhr

Olaf Dorow (Weser Kurier vom 31.12.2022, Sport, Seite 30)

Seine Trainerin war Grażyna Rabsztyn. Das war ein Name in der Leichtathletikszene, sie lief einst zweimal Weltrekord über 100 Meter Hürden. "Sie war", sagt Andrei Fabrizius, "wie eine zweite Mama für mich." Nicht nur, weil sie ein Vorbild und eine Autorität war für junge Sprinter wie ihn. Sie gab den Jungen und Mädchen, die ihr nacheiferten, eine Struktur und eine Richtung in ihrem jungen Leben, so sieht Andrei Fabrizius das, der früher ein Sprinter beim SV Werder war und dort heute ein 39 Jahre alter Sprinttrainer ist. 

Aber vor allem wurde ihm damals Grażyna Rabsztyn eine zweite Mama, weil er so oft bei ihr war. Anfangs vier-, fünfmal pro Woche im Training, später täglich, auch am Wochenende. Am Wochenende war entweder Training oder Wettkampf.

Fast jeden Tag Training, seit er 16 ist: Das bedeutet automatisch Verzicht. Zumindest wenn man es sich so vorstellt, dass das Teenagerleben auch aus ordentlich Disco, Party, Kino, Bei-Musik-Abhängen, Mit-Freunden-Abhängen oder anderen Beschäftigungen besteht. Chillen gilt als gängiges Jugendwort, aber mit Chillen war nicht viel im Alltag des jungen Leistungssportlers Andrei Fabrizius, der aus einer russlanddeutschen Familie stammt und als Kleinkind 1994 mit seinen Eltern aus der Nähe von Omsk im Ural nach Bremen kam. Das Dreieck Elternhaus – Schule – Trainingshalle bestimmte hier schon bald seinen Tagesplan. Er war im Grunde andauernd auf Achse. Die Wohnung war in der Vahr, die Schule in Obervieland, Training im oder am Weserstadion. "Man wird dabei fast zum Außenseiter", sagt er, sowohl in der Gruppe der Gleichaltrigen als auch in der eigenen Familie sei das so. Immer ist was mit dem Sport, immer gibt es eine Verpflichtung, einen Termin. Der Verzicht lässt sich nicht in Zahlen, in Geld ausdrücken. Aber er ist beträchtlich. 

Verzichten: ja, vermissen: nein. Andrei Fabrizius kann und will das sauber trennen. "Ich vermisse nix", sagt er ungefragt. Der Sport habe ihm doch viel gegeben, gibt ihm immer noch so viel. Zwar erfüllte sich der Traum des jungen Talents von olympischen Meriten nicht. Natürlich hatte auch er diesen Traum. Kaum ein halbes Jahr im Training stand er im Sommer 2000 schon in Dresden im 200-Meter-Finale der deutschen U18-Meisterschaften. Er stand häufig in nationalen Finals, aber ganz hoch an die nationale Spitze gelangte er nicht. In seinem Jahrgang waren andere noch schneller, womöglich noch talentierter. Andrei Fabrizius sagt, er habe sich zunehmend mental selbst im Weg gestanden. Wirklich gutem Training seien nicht wirklich gute Wettkämpfe gefolgt. Er stagnierte.

Aber der Sport, der Sprint, das blieb sein Ding. Er wurde Werder-Trainer, das ist seit etlichen Jahren seine zweite halbe Stelle neben der halben Stelle als verbeamteter Lehrer an der Grundschule in Huchting. Der Sport, sagt er, habe seine Persönlichkeit geformt, habe ihm Sicherheit und Bestätigung gegeben, seinen Freundeskreis und, nun ja: auch seine Frau. Seine Frau Anja, mit der er zwei Kinder hat, drei und sechs Jahre alt, hat er über den Sport kennengelernt. Anja Fabrizius ist heute Jugendwartin in Werders Leichtathletik-Abteilung, und im CSR-Ressort des Vereins betreut sie das Projekt Windelliga.

"Wahrscheinlich würde das alles nicht funktionieren, wenn meine Frau keine Sportaffinität haben würde", sagt er. Hat sie aber. Er würde nie sagen, dass nicht mal der Punkt kommt, ab dem es nicht mehr funktioniert. Aber momentan hält es die Beziehung aus, dass für lange Wochenenden oder längere Urlaube kaum ein Zeitfenster offensteht. Als Lehrer ist Andrei Fabrizius zum Urlauben mit der Familie auf die Ferien angewiesen. Die Hauptferien fallen aber mit der Hauptsaison in der Leichtathletik zusammen. In diesem Sommer sei er an 13 Wochenenden am Stück unterwegs gewesen, sagt der Trainer.

Demnächst steht die Hallensaison an, da sind auch schon wieder neun aufeinanderfolgende Wochenenden verplant. Die Wettkämpfe, die sich oft über viele Stunden ziehen, die langen Fahrten zu den Hallen oder Stadien im Süden der Republik: Vorwiegend sind das unbezahlte Überstunden. Über zwei, drei Wochen zusammen irgendwo hinfahren, das geht in der Familie Fabrizius in der aktuellen Konstellation nicht. Sie würden es versuchen, zumindest ein bisschen zu kompensieren durch gemeinsame Fahrten zu Wettkämpfen oder ins Trainingslager, sagt der Werder-Trainer. Ende März geht es ins Trainingslager nach Mallorca, da sind Osterferien. Frau und Kinder kommen mit.

Zumindest diese starken Urlaubseinschränkungen für seine Familie würde er dann doch als echten Verzicht definieren, räumt Andrei Fabrizius ein. Dass da wenig geht in den langen Sommerferien, das würde auch seine Frau durchaus bedauern. Die Kinder werden es eventuell auch bedauern, wenn sie etwas älter sind. Andererseits: Ein hochemotionales Erlebnis hatte die Familie in diesem Sommer ja. Sie ist zu den Europameisterschaften nach München gefahren, die vor allem in der Leichtathletik zu einem rauschenden Fest wurden. Grandiose deutsche Sprinterfolge waren inklusive.

 

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