Ein Sprint für Afghanistan

Bremer Said Gilani vertritt Afghanistan bei Leichtathletik WM

Said Gilani wird bei der Leichtathletik WM mit einer Wildcard für sein Heimatland über 100 Meter antreten
Leichtathletik
Mittwoch, 13.07.2022 / 11:20 Uhr

Olaf Dorow (Weser Kurier vom 13.07.2022, Sport, Seite 25)

Die Flagge der Taliban ist weiß, mit schwarzer Schrift. Afghanistans Nationalflagge ist bunt. Schwarz, rot, grün, mit weißer Beschriftung. Die Taliban haben nach ihrer Machtübernahme in Kabul alle bunten Flaggen abgenommen, erzählt Said Gilani. Aber er wird sie mit Stolz tragen an diesem Freitag.

Er wird der Welt damit zeigen, dass Afghanistan und Taliban nicht das Gleiche sind. Und im Kabuler Sender Tolo-TV werden das auch die Menschen in dem geschundenen Land sehen können, sein Vater werde für die Bilder sorgen. Viele Menschen werden das sehen, sagt Gilani, Tolo-TV sei in Afghanistan so etwas wie die ARD in Deutschland. Said Gilani ist ein Leichtathlet des SV Werder mit einer Bestzeit von 11,13 Sekunden über 100 Meter. Er ist erst 26, aber schon seit zwei Jahrzehnten ist die Leichtathletik seine Leidenschaft, er ist mehrfacher norddeutscher Meister im Zehnkampf. Seine 100-Meter-Zeit taugt bei rein sportlicher Betrachtung nicht zur Schlagzeile, aber es geht halt um mehr als Sport. Gilanis Auftritt auf der internationalen Bühne des Sports führt all jene Behauptungen ad absurdum, dass Sport und Politik nichts miteinander zu tun haben.

An diesem Freitag startet Said Gilani, geboren in Deutschland als Sohn afghanischer Flüchtlinge, bei der WM in Eugene, Oregon, über 100 Meter. Regelmäßig bekommt der afghanische Verband eine Wildcard für diese Disziplin. Gilani hat sie schon dreimal bekommen. 2017 rannte er in London, 2019 startete er bei der WM in Doha. Das war jedes Mal großartig und aufregend, er traf auf Stars wie Usain Bolt, er erfuhr die atemberaubende Stimmung im Londoner Olympiastadion, erzeugt durch 60.000 Zuschauer. Er wurde Teil der internationalen Leichtathletik-Familie, freundete sich an mit dem späteren Hallen-Europameister Ján Volko aus der Slowakei. Über Instagram halte man Kontakt, sagt Gilani. Vor allem aber wurde er – als jeweils einziger Starter für Afghanistan – so etwas wie ein Botschafter. „Mein Land zu repräsentieren, das ist eine große Motivation“, sagt er. Sein Land: Es soll nicht als Land der Taliban wahrgenommen werden, sondern als Land der Menschen, die von den radikalen Islamisten drangsaliert werden. Nicht nur von außen werden die Taliban als Regierung nicht anerkannt, sagt er. Auch von innen sei das so. Die Leute bekämen keine Löhne, die Banken würden nichts auszahlen können, 90 Prozent der Leute würden hungern.

Said Gilani hat die deutsche und die afghanische Staatsbürgerschaft. Seine Mutter war schwanger mit ihm, als die Eltern mit seiner Schwester nach Deutschland kamen. Die gesamte Verwandtschaft der Eltern lebe in Kabul, deswegen wisse er Bescheid über die Zustände dort. Die Zustände am Hindukusch sind aus dem Fokus der Medien geraten, aber das ändert nichts daran, dass sie zu einem Großteil aus Armut, Hunger, Korruption und Terror bestehen, aus einer grauenvollen Verbotsliste für Frauen. „Umso mehr will ich die andere Seite von Afghanistan zeigen“, sagt Said Gilani.

Vor knapp drei Wochen hatte ihn der afghanische Leichtathletik-Verband kontaktiert und für die WM in Amerika nominiert. Der Verband kommuniziert mit den Athleten vorwiegend über Social-Media-Kanäle. Wie fast alle Sportfunktionäre würde auch der Leichtathletik-Verband von der Türkei aus operieren, sagt Gilani. Sport unter den Augen der Taliban sei derzeit kaum möglich. Im Frühjahr 2021 sei das noch anders gewesen, da habe es in Kabul noch ein Ausscheidungsrennen gegeben für den afghanischen 100-Meter-Startplatz bei den Olympischen Spielen von Tokio. Said Gilani sagte für den Wettkampf in Kabul ab, er hielt das für keine gute Idee, dorthin zu reisen. Zudem war er beruflich sehr eingespannt, mit Studium plus Schichtdienst bei Edeka in Bremerhaven. Inzwischen ist das Studium abgeschlossen, er bekam einen Job bei Edeka in Celle angeboten. Als Handelsfachwirt arbeitet er in der Revision des Handelsriesen. Er betreut 85 Filialen der Kette, berät sie in Sachen Daten- oder Brandschutz oder in der Qualitätssicherung.

Nur wenige Monate nach dem Ausscheidungsrennen in Kabul – und damit seiner verpassten Olympiachance – war an eine Reise nach Afghanistan erst recht nicht mehr
zu denken. Die Bilder vom hastigen Abzug der westlichen Truppen, von triumphierenden Taliban und dem Superchaos am Kabuler Flughafen gingen um die Welt. Said Gilanis
Start am Freitag in Eugene wird nicht dazu führen, dass die Welt sich anders dreht. Aber sein Sprint für Afghanistan soll auch ein Symbol für Afghanistan sein. Und da will er natürlich nicht nur die Flagge seines Landes zeigen, er will sein Land auch bestmöglich vertreten. Er will möglichst eine neue Bestzeit aufstellen, auch wenn er weiß, dass der Wettkampf nach dem Vorlauf sehr wahrscheinlich beendet sein wird. „Aber vielleicht“, sagt er, „bin ich diesmal in meinem Vorlauf einen Platz besser als letztes Mal.“ Bei der WM in Doha vor drei Jahren wurde er in seinem Vorlauf Sechster. Man darf behaupten: Es kann eine Menge bedeuten, ob jemand in einem Vorlauf Sechster oder Fünfter wird.

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Den Artikel aus dem Weser-Kurier gibt es auch hier zum nachlesen:

Weser-Kurier vom 13.07.2022, Sport, Seite 25, Redakteur: Olaf Dorow

 

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