Said Gilani hat die deutsche und die afghanische Staatsbürgerschaft. Seine Mutter war schwanger mit ihm, als die Eltern mit seiner Schwester nach Deutschland kamen. Die gesamte Verwandtschaft der Eltern lebe in Kabul, deswegen wisse er Bescheid über die Zustände dort. Die Zustände am Hindukusch sind aus dem Fokus der Medien geraten, aber das ändert nichts daran, dass sie zu einem Großteil aus Armut, Hunger, Korruption und Terror bestehen, aus einer grauenvollen Verbotsliste für Frauen. „Umso mehr will ich die andere Seite von Afghanistan zeigen“, sagt Said Gilani.
Vor knapp drei Wochen hatte ihn der afghanische Leichtathletik-Verband kontaktiert und für die WM in Amerika nominiert. Der Verband kommuniziert mit den Athleten vorwiegend über Social-Media-Kanäle. Wie fast alle Sportfunktionäre würde auch der Leichtathletik-Verband von der Türkei aus operieren, sagt Gilani. Sport unter den Augen der Taliban sei derzeit kaum möglich. Im Frühjahr 2021 sei das noch anders gewesen, da habe es in Kabul noch ein Ausscheidungsrennen gegeben für den afghanischen 100-Meter-Startplatz bei den Olympischen Spielen von Tokio. Said Gilani sagte für den Wettkampf in Kabul ab, er hielt das für keine gute Idee, dorthin zu reisen. Zudem war er beruflich sehr eingespannt, mit Studium plus Schichtdienst bei Edeka in Bremerhaven. Inzwischen ist das Studium abgeschlossen, er bekam einen Job bei Edeka in Celle angeboten. Als Handelsfachwirt arbeitet er in der Revision des Handelsriesen. Er betreut 85 Filialen der Kette, berät sie in Sachen Daten- oder Brandschutz oder in der Qualitätssicherung.
Nur wenige Monate nach dem Ausscheidungsrennen in Kabul – und damit seiner verpassten Olympiachance – war an eine Reise nach Afghanistan erst recht nicht mehr
zu denken. Die Bilder vom hastigen Abzug der westlichen Truppen, von triumphierenden Taliban und dem Superchaos am Kabuler Flughafen gingen um die Welt. Said Gilanis
Start am Freitag in Eugene wird nicht dazu führen, dass die Welt sich anders dreht. Aber sein Sprint für Afghanistan soll auch ein Symbol für Afghanistan sein. Und da will er natürlich nicht nur die Flagge seines Landes zeigen, er will sein Land auch bestmöglich vertreten. Er will möglichst eine neue Bestzeit aufstellen, auch wenn er weiß, dass der Wettkampf nach dem Vorlauf sehr wahrscheinlich beendet sein wird. „Aber vielleicht“, sagt er, „bin ich diesmal in meinem Vorlauf einen Platz besser als letztes Mal.“ Bei der WM in Doha vor drei Jahren wurde er in seinem Vorlauf Sechster. Man darf behaupten: Es kann eine Menge bedeuten, ob jemand in einem Vorlauf Sechster oder Fünfter wird.