Der Lockdown im März schloss sich an einen Winter an, in dem es im Training so lala gelaufen sei, sagt die Athletin. Wegen der vielen Klausuren an der Uni hatte sie auf Winter-Wettkämpfe verzichtet. Es sollte jetzt wieder der Sport im Mittelpunkt stehen, als der Olympiastützpunkt für Wochen geschlossen wurde. Nix Training. Sie fuhr nach Hause, zu den Eltern nach Bremen. Als sie im Mai nach Potsdam zurückkehrte, kehrte auch dieses vermaledeite Technik-Problem zurück. Kurzer Anlauf: okay. Langer Anlauf: nicht okay. „Und ich war wieder an dem Punkt, an dem ich ein Jahr vorher war“, sagt Stina Seidler. Warum kann ich nicht anknüpfen an den Meistersprung? Wofür betreibe ich diesen ganzen Aufwand? Wo ist der Mehrwert? Solche Fragen habe sie sich gestellt. Also doch aufhören?
Viel gesprochen habe sie, mit dem Trainer, mit den Freunden, mit den Eltern. Sie ist kein Plappermaul. Aber auch keine, die das nur mit sich selbst ausmacht und sich in sich selbst zurückzieht. Seidler ist dann im August noch mal für zwei Wochen nach Bremen gefahren. Bei ambitionierten Sportlern ist das zumeist so: Wenn sie zwei Wochen nix machen, dann vermissen sie etwas. „Ich habe aber nichts vermisst in den zwei Wochen“, sagt Stina Seidler. Das gab den Ausschlag. Der Spaß war noch da, aber es war eben auch nicht mehr als die Freude daran, mit Freunden auf dem Trainingsplatz zu sein und zu üben. Der Leistungsgedanke trug nicht mehr. Keine innere Flamme. Es ist wirklich eine Crux mit diesem Leistungssport-Ding. Mit seiner Ambivalenz. Fluch und Segen, Geben und Nehmen. In der Leichtathletik wird wie in vielen anderen Sportarten alles ganz gerecht vermessen nach Zentimetern und Hundertstelsekunden, und doch kann sich das ungerecht anfühlen. Viel Aufwand gleich viel Ertrag, das taugt nicht als Rechnung. Um sein Limit herausfinden oder erreichen zu können, wird bisweilen zu viel Gegenleistung verlangt. Stina Seidler wäre bestimmt noch mal höher gesprungen als 4,20 Meter, wenn sie ihre Karriere nicht mit 22 beendet und weiter, immer weiter trainiert hätte. Aber zu welchem Preis? Studium noch mehr vernachlässigen? Berufsperspektive einengen?
Sie ist jetzt im siebten Semester. Nur noch ein paar Klausuren und die Bachelorarbeit, dann hätte sie ihren Abschluss. Sie will den Master dranhängen, Schwerpunkt Finanzwirtschaft. Eine verlässliche solide wirtschaftliche Basis wäre nur selten etwas, was der 24/7-Sport im Angebot hat, in der Leichtathletik ist das jedenfalls so. Und nun? Fehlt ihr nicht doch etwas? Ja, die Freunde beim Training, die Gemeinschaft dort, das vermisse sie schon. Aber sie habe gemerkt, wie viel Zeit sie nun hat. Es ist auch eine Art Ballast weg. Ihr Studienfach ist nicht mehr Nummer zwei, sie könne sich da jetzt richtig intensiv mit beschäftigen. Stina Seidler sagt: „Ich habe meine Entscheidung nicht bereut. Nicht einmal.“