Das ehrlichere Bild hinter der Fassade

Filmemacherin Julia Friedrichs spricht über ihre Eindrücke von WM-Gastgeberland Katar

Julia Friedrichs vor einer vorbeifahrenden Bahn.
Julia Friedrichs hat in Katar die Doku "Geheimsache Katar" gedreht (Foto: Berlin Verlag)
Julia Friedrichs
Mittwoch, 23.11.2022 / 16:30 Uhr

Das Interview führten Moritz Studer und Yannik Cischinsky

Mit der Stellungnahme zur Fußball-Weltmeisterschaft in Katar hat der SV Werder Bremen angekündigt, sich nicht hinter einem unbeteiligten Stillschweigen zu verstecken, sondern Menschen mit einem differenzierteren Blick auf die Situation vor Ort zu Wort kommen zu lassen. In diesem Rahmen hat sich WERDER.DE mit Julia Friedrichs unterhalten, die gemeinsam mit Jochen Breyer die vielbeachtete Dokumentation „Geheimsache Katar“ gedreht hat. Die 43-Jährige drückt Werder in der Bundesliga die Daumen und war im Rahmen ihres Drehs zwei Mal vor der WM in Doha. Friedrichs gibt im Interview einen Einblick von ihren Eindrücken des Gastgeber-Landes und wie sie sich selbst als Frau, aber auch als Mensch bei ihren Dreharbeiten gefühlt hat.

WERDER.DE: Moin Julia, für die Doku ‚Geheimsache Katar habt ihr Einblicke hinter die Kulissen des Wüstenstaats Katar bekommen. Was hast du von der Reise erwartet?

Julia Friedrichs: „Jochen Breyer und ich haben schon im Dezember mit den Recherchen begonnen. Unser Ziel bei dem Projekt war es, die vielen Klischees zu überprüfen und bestenfalls über Bord zu werfen. Wir sind extra zwei Mal dorthin gefahren, einmal im Juli und einmal im September, um uns selber die Gelegenheit zu geben, das Erlebte zu überprüfen und zu verarbeiten. Wir hätten schon die Hoffnung gehabt, dass unser Bild nach den zwei Reisen ein anderes ist…"

WERDER.DE: Hat dich denn die Aufmerksamkeit, die die Doku bekommen hat, überrascht?

Julia Friedrichs: „Uns hat sehr gefreut, wie viele Menschen die Doku gesehen und kommentiert haben. Das Maß der Aufmerksamkeit haben wir aber nicht erahnt. Wir haben bei den Dreharbeiten deutlich gemerkt, in welchem Ausmaß Katar versucht das Bild vom Land  zu kontrollieren. Ich glaube schon, dass es uns gelungen ist, ein ehrlicheres Bild zu zeigen. In dem Interview mit Khalid Salman, dem WM-Botschafter, gab es Momente der Wahrhaftigkeit, die Katars geschöntem PR-Bild entgegenstanden.“

WERDER.DE: Dann habt ihr das Ziel der Dokumentation erreicht?

Julia Friedrichs: „Wir wollten nicht mit dem Finger auf Katar zeigen, sondern eigentlich klarmachen, wie es zu dieser WM gekommen ist. Hauptverantwortlich ist der organisierte Fußball: Einerseits die FIFA, andererseits aber auch die europäischen Spitzenklubs, die im entscheidenden Moment ihre Werte nicht in den Vordergrund gerückt haben. Katar hat nie behauptet, anders zu sein. Man wusste, in welches Land man geht. Katar hat nicht die Welt getäuscht, sondern die FIFA hätte sagen müssen, dass das Land kein geeigneter Gastgeber ist. Kriterien wie die Einhaltung von Menschenrechten oder Nachhaltigkeit haben aber bei der Vergabe keine Rolle gespielt.“

Es hat uns alle sehr beschäftigt, wie sich dieses erzkonservative Modell dort hält, weil viele Frauen sehr gut ausgebildet sind.
Julia Friedrichs

WERDER.DE: Gerade in diesen Tagen hat sich die Debatte am Verbot der #OneLove-Kapitänsbinde nochmals entzündet. Was könnten Vereine deiner Meinung nach denn tun, um sich zu positionieren?

Julia Friedrichs: „Für einen Verein wie Werder Bremen sind die Möglichkeiten sicher begrenzt. Man sollte klar Position beziehen, aber man war ja als Verein nicht in die Vergabe involviert. Und natürlich ist man auch stolz, beispielsweise mit Niclas Füllkrug endlich wieder einen Werderaner dabei zu haben. Was die Verbände angeht: Ich denke, wenn man ein solches Zeichen des Protests ankündigt, muss man es auch gegen Widerstände durchsetzen. Ich hätte mir gewünscht, dass die europäischen Verbände bei dem Eklat um die One-Love-Binde den Knall mit der FIFA in Kauf genommen hätten.“

WERDER.DE: Einer der einprägsamsten Momente in eurer Doku ist der Vergleich der Frau mit einer Süßigkeit. Welches Gefühl hat das während des Drehs bei Dir ausgelöst?

Julia Friedrichs: „Als westliche Frau konnte ich mich in Katar relativ normal bewegen. Es gab zum Beispiel keine Kleidungsordnung. Es war aber klar, dass ich nicht als gleichwertige Gesprächspartnerin akzeptiert war. Die Welt, in der wir uns dort bewegten, war eine reine Männerwelt. Als Frau fragst du dich, wie es wäre, hier zu leben. Die Spiele von Werder zum Beispiel schaue ich immer mit zwei männlichen Freunden – das zum Beispiel wäre in Katar kaum möglich und das wäre für mich schwer zu ertragen. Es hat uns alle sehr beschäftigt, wie sich dieses erzkonservative Modell dort hält, weil viele Frauen sehr gut ausgebildet sind.“

WERDER.DE: Um das nochmal herauszustellen: Worin hast du einen Unterschied in der Behandlung von Jochen Breyer und dir ausgemacht?

Julia Friedrichs: „Natürlich war Jochen vor der Kamera und hat dadurch grundsätzlich mehr Aufmerksamkeit bekommen. Aber auch beim Small Talk oder den Hintergrundgesprächen wurde mir manchmal gar nicht oder nur sehr kurz geantwortet. Ich war, gerade was Fußball angeht, keine adäquate Gesprächspartnerin. Das möchte ich aber nicht zu hoch hängen, weil das in Deutschland auch oft genug passiert.“

Die Frage, ob sich Katar wandelt, ist sicher nicht die WM, sondern wie lange die jungen, gut ausgebildeten Frauen das System in der Form akzeptieren.
Julia Friedrichs

WERDER.DE: Im Podcast mit Micky Beisenherz hast du Katar als ‚Klassensystem wohlhabender Männer bezeichnet. Welche Rolle bleibt der Frau in der katarischen Gesellschaft?

Julia Friedrichs: „In Katar gibt es ein relativ kompliziertes System der männlichen Vormundschaft. Frauen sind darauf angewiesen, dass Männer, erst der Vater und später der Ehemann, ihre Entscheidungen gutheißen. Der Mann ist zudem das finanzielle Zentrum jeder katarischen Familie: Denn, in dem Moment, in dem er heiratet, bekommt er eine üppige Grundausstattung wie ein Grundstück und eine hohe Startprämie.

WERDER.DE: Das sind keine guten Voraussetzungen für Gleichberechtigung

Julia Friedrichs: „Nun ja, es ist offenkundig, dass Frauen nicht so unterdrückt sind, wie in anderen Staaten der Region. Sie sind oftmals berufstätig und zeigen sich, wenn auch verhüllt, in der Öffentlichkeit. Aber gleichberechtigt sind sie - wie das Beispiel des Vormundschafts-System zeigt, eben nicht. Da das aber in den Familien passiert, ist es kaum möglich von außen zu bewerten, wie frei katarische Frauen in ihren Entscheidungen sind.“

WERDER.DE: Was macht diesen Einblick in das System so schwierig?

Julia Friedrichs: „Ich traue mir nicht zu, zu bewerten, was in den Häusern passiert. Wir haben auch mit Deutschen gesprochen, die schon lange dort wohnen, bei denen immer wieder der Begriff ‚Fassaden-Gesellschaft‘ gefallen ist. Frauen haben nicht die gleichen Rechte – das ist unstrittig. Aber: Sind gut ausgebildet. Bedeutend für die Frage, ob sich Katar wandelt, ist sicher nicht die WM, sondern vielleicht eher wie lange die jungen, gut ausgebildeten Frauen das System in der Form akzeptieren.“

WERDER.DE: Wir haben im Rahmen unserer Berichterstattung rundum die WM mit einer Frau gesprochen, die sehr positiv über die Möglichkeiten für Frauen in Katar gesprochen hat.

Julia Friedrichs: „Wenn es dieses System der Vormundschaft gibt und es läuft gut mit deinem Vormund, dann hast du viele Freiheiten. Das war auch unser Eindruck. Was ist aber, wenn der Vormund nicht damit einverstanden ist, wenn du arbeiten oder ins Ausland gehst oder Basketball spielen möchtest. Welche Möglichkeiten hast du dann? Das sind Momente, wo Rechte wichtig werden, auf die man sich im Zweifel berufen kann. Und einen solchen unabhängigen Rechtsstaat gibt es in Katar nicht.“

Katar ist ein Überwachungsstaat in einem Ausmaß, das ich noch nicht erlebt habe.
Julia Friedrichs

WERDER.DE: Du hast auch davon berichtet, dass die Überwachung in Katar sehr extrem sei.

Julia Friedrichs: „Katar ist ein Überwachungsstaat in einem Ausmaß, das ich noch nicht erlebt habe. Wir haben ganz bewusst keine Handys oder Computer mitgenommen, weil wir gehört haben, dass diese dort über Spy-Ware ausspioniert werden. In einem Viertel, in dem wir drehen wollten, einem sehr modernen Viertel mit rund 25.000 Einwohnerinnen und Einwohnern, soll es 10.000 Kameras geben. Wenn wir mal für Straßenaufnahmen die Kamera rausgeholt haben, waren binnen Sekunden Sicherheitskräfte da.“

WERDER.DE: War es für dich umso überraschender, dass sich der WM-Botschafter Khalid Salman trotzdem derart homophob geäußert hat?

Julia Friedrichs: „Wir haben uns mehrmals mit ihm getroffen und darüber eine menschliche Basis aufbauen können. Ihm war es spürbar wichtig, dass wir verstehen, warum er ein Problem damit hat, dass Menschen ihre Homosexualität auf der Straße öffentlich zeigen. Für ihn ist seine Haltung nicht problematisch, sondern entspricht dem Gesetz, das in Katar gilt. Und so wie er denkt dort leider ein großer Teil der Menschen.“

WERDER.DE: Müssen wir also doch nach Katar reisen und diese Kultur so annehmen. Sind wir zu kritisch, im Umgang mit ihren Werten, wie ja oft argumentiert wird?

Julia Friedrichs: „Es ist immer geboten, sich an alle Höflichkeitsregeln zu halten. Ich nehme als Journalistin bei Reisen Rücksicht auf die Gepflogenheiten der Länder, in denen ich zu Gast bin. Bei Menschenrechten ist das aber etwas anderes – Menschenrechte sind universell. Ich finde nicht, dass wir gezwungen sind zu akzeptieren, dass die Liebe zwischen zwei Männern oder Frauen unter Strafe steht. Es wäre gefährlich, das als Kultur einzuordnen. Man unterstellt doch den Kataren damit, dass ihre Kultur im Prinzip diskriminierend ist."

WERDER.DE: Aber ist sie das dann nicht?

Julia Friedrichs: „In Katar gelten überkommene Regeln, die es ja in Deutschland auch gegeben hat. Gesetze, die bei uns zum Glück geändert wurden, weil dafür gekämpft wurde, dass Frauen, dass queere Menschen gleiche Rechte haben. Warum sollte das nicht eines Tages auch in Katar gelingen?"

Es gibt in Katar auch konservative Strömungen, die diese WM für keine gute Idee halten – wegen der ‚anstrengenden‘ Fragen.
Julia Friedrichs

WERDER.DE: Hältst du es denn auch für möglich, dass die WM nachhaltig einen Einfluss auf Katar hat?

Julia Friedrichs: „Ich glaube, das kann niemand sagen. Es gibt in Katar auch konservative Strömungen, die diese WM für keine gute Idee halten – wegen der ‚anstrengenden‘ Fragen. Fußballturniere und andere große Sportereignisse darf man nicht überbewerten. Sie werden ein Land nicht auf Dauer verändern. Blicken wir beispielsweise auf China und Russland. Aber sie können vielleicht einen Anstoß geben - leider in beide Richtungen. Unsere Aufgabe ist es, nach dem Turnier zu schauen, wie sich Katar weiterentwickelt.“

WERDER.DE: Wir haben am Dienstag auf Social Media unsere Logos selbst in Regenbogenfarben getaucht und dafür auch Kritik geerntet. Dürfen wir derartige Ansprüche an Katar und seine Menschen stellen, wenn wir als Gesellschaft in Deutschland selbst vielleicht noch nicht so weit sind?

Julia Friedrichs: „Der Maßstab ist doch, was im Gesetz steht. In Deutschland steht Homosexualität nicht unter Strafe. Wir haben uns die allermeisten Rechte erstreiten können. Der alles entscheidende Unterschied ist, dass Khalid Salman zum Beispiel die offizielle Staatsmeinung Katars vertritt. Das ist ein großer Unterschied zu jemanden, der sich bei Werder Bremen unter einem Facebook-Post diskriminierend äußert.“

WERDER.DE: Das Turnier läuft nun seit einigen Tagen. Wie hast du die WM bisher verfolgt?

Julia Friedrichs: „Bislang so wenig wie noch nie. Ich bin aktuell aber auch auf einer Recherchereise. Wenn ich zu Hause bin, werde ich mit meinen Söhnen sicherlich mehr sehen. Ich hatte aber wirklich keine Vorfreude auf das Turnier. Ich fände einen Service gut, der nur die Szenen von Niclas Füllkrug zusammenschneidet (lacht). Ich werde sicherlich ein paar Spiele schauen – aus Treue zu diesem Sport, der es mir im Moment so schwermacht.“

Liebe Julia, vielen Dank für das Gespräch! 

 

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