Wie stehst du zu dieser Frage? Laurent Blanc war immerhin dein letzter Trainer in Bordeaux.
Johan Micoud: "Ich beteilige Jean-Louis Gasset an seiner Arbeit. Die beiden bilden ein gutes Gespann. Wenn man sich nur die Ergebnisse anschaut, ist die Bilanz gut. Die EM-Qualifikation wurde erreicht. Wenn man aber die Spielausrichtung unter die Lupe nimmt, bin ich der Meinung, dass es ihm noch nicht gelungen ist, das umzusetzen, was er sich vorgenommen hat. Der Zufall ist ein großer Faktor im Spiel. Ich nenne das Ergebnis halbbefriedigend."
Also siehst du die Deutschen am Mittwoch im Weser-Stadion als hohen Favoriten?
Johan Micoud: "Ich sage einen Sieg Deutschlands voraus. Aber wir Franzosen sind zu Überraschungen fähig, wenn wir unter Zugzwang sind. Es wäre aber eine riesige Überraschung, wenn Frankreich Deutschland besiegen würde! (Lachen)"
Aber ist denn die Entwicklung in den letzten zehn Jahren so auseinander gegangen. Vor zehn Jahren haben die Deutschen noch sehr neidisch auf die französischen Erfolge und die tolle Ausbildung geschaut?
Johan Micoud: "Das hat sich einiges bewegt. Deutschland und Spanien sind jetzt gemeinsam EM-Favoriten. Deutschland hat sogar einen Vorteil, weil Spanien die beiden letzten Wettbewerbe gewonnen hat. Es wird bestimmt sehr schwer, so konstant zu sein, um einen dritten Titel zu gewinnen. Das hat noch keine Auswahl geschafft. Frankreich war nach den Titeln 1998 und 2000 in der gleichen Situation. Tatsächlich war es echt schwer, sich alle zwei Jahre für so ein großes Turnier neu zu motivieren."
Aber zurück zur gegensätzlichen Entwicklung in den vergangenen Jahren. Was ist da genau passiert?
Johan Micoud: "Alles hat in Deutschland unter Bundestrainer Klinsmann angefangen, und diese Entwicklung wurde dann mit Löw weitergeführt. Und diese Arbeit strahlte auch in die Bundesliga aus. Es gibt in Deutschland eine Kultur des offensiven Spieles. Alle Spieler der Nationalmannschaft kennen sich sehr gut und seit langer Zeit, sind jung und werden von älteren betreut. Wenn ich nur an Klose denke, der immer noch sehr gut drauf ist und offensichtlich ewig spielen kann. Im deutschen Team herrscht eine Atmosphäre, die es auch jungen Spielern leicht macht, sich in diese Gruppe einzugliedern. So werden auch Automatismen auf dem Feld besser weitergetragen. Alle Spieler haben dieselbe Spieleinstellung. Alle Spieler ziehen am selben Strang und jeder ist auf der richtigen Stelle. Es macht wirklich Spaß, diese Mannschaft so gut spielen zu sehen."
Oh, nach dieser Lobeshymne müssen wir aber erstmal Luft holen. Schauen die Franzosen etwa jetzt neidisch nach Deutschland?
Johan Micoud: "Das weiß ich nicht, aber ich bin der Ansicht, dass der deutsche Fußball insgesamt in Europa unterschätzt wird. Das ist schade, weil der deutsche Fußball einer der spektakulärsten ist. Obwohl Bayern München den anderen Teams vielleicht ein bisschen überlegen ist, ist der Meistertitel jedes Jahr hart umkämpft. Es sind offene Spiele, es geht um einen Fußball, der vorwärtsorientiert ist. Die Deutschen haben alles verstanden! Sie haben verstanden, dass Fußball ein Spiel und eine Show sein muss. Man kann es jedes Wochenende beobachten. Es fallen viele Tore, die Stadien sind voll. Zusätzlich genießen die Deutschen auch ihre Nationalmannschaft, die diese Werte und dieses Prinzip symbolisiert."
Interview von Franck d'Agostini, Martin Lange, Michael Rudolph